Im Foyer und in den offenen Workshop-Spaces des Rathauses herrscht reges Treiben. Im offenen Plenum werkelt eine Künstlergruppe an einer Installation. Aus den mobilen Mooswänden sprießt junges Grün und die Rohre einer Aquaponic-Anlage schlängeln sich bis ins 3. Stockwerk hoch. Das historische Gebäude wurde vor 4 Jahren umfassend umgebaut. Büros, Wartebereiche oder Anmeldetheken sucht man hier vergebens. Die Zählapparate, mit denen Besucher:innen früher Bearbeitungsnummern ziehen mussten, stehen im Keller; das Archiv mit Papierakten wurde ans städtische Museum übergeben.
Ich bin beeindruckt, denn noch vor 5 Jahren war dieses Rathaus ein enges verstaubtes Verwaltungsgebäude, wo alles auf Papier ausgedruckt wurde, was nicht bei drei auf dem Baum war und das Wort Digitalisierung nur hinter vorgehaltener Hand ausgesprochen wurde.
„Wie haben Sie es geschafft, innerhalb einer solch kurzen Zeit eine so umfassende Transformation hinzulegen?“, frage ich die Bürgermeisterin. „Nun, es war sicherlich nicht trivial, denn insgesamt mussten wir die 12 Stadtteilämter, 7 Referate mit 32 Ämtern und Eigenbetrieben sowie den Geschäftsbereich der Bürgermeisterin umgestalten, d.h. es ging um rund 6.000 Arbeitsplätze.
Künftige Lizenzkosten einsparen
„Wir standen damals vor der Entscheidung, unsere Infrastruktur weiterhin mit proprietären Lösungen zu betreiben oder uns u.a. von Lizenzen unabhängig zu machen. Das Thema digitale Souveränität kochte damals auf Landesebene recht hoch, gleichzeitig waren unsere finanziellen Mittel begrenzt. Wir wogen also u.a. bestehende Lizenzgebühren gegen Migrationskosten ab und kamen zu dem Schluss, dass Open Source Lösungen uns langfristig flexibler und unabhängiger machen und dabei nur geringe Mehrkosten verursachen würden. Eingesparte Lizenzkosten für die Zukunft würden unser Budget zusätzlich entlasten. Außerdem hatte der Bund Gelder für die Digitalisierung von Verwaltungen im Rahmen des Onlinezugangsgesetzes zugesagt.
Anforderung: ein verbundenes und offenes Ökosystem
Mein Geschäftsbereich befand sich damals in einem Transformationsprozess zur agilen Verwaltung. Ich hatte dort bereits ein Team aus offenen, neugierigen und veränderungswilligen Menschen, die bereit waren, auch andere mit ihrem Engagement anzustecken. Unsere Anforderungen für die neue Infrastruktur waren schnell gefunden: Wir wollten uns unabhängig machen. Spezialisten sollen ihre Stärken und Innovationen in ihren Spezialbereichen einbringen und durch noch bessere Spezialisten ausgetauscht werden können, ohne das Gesamtprojekt zu beeinflussen. Das Ökosystem aller Lösungen, die sich mit der Kommunikations- und Dateninfrastruktur verbinden, sollte eine allgemeine Schnittstelle nutzen können. Und natürlich sollte es so klimaneutral und Open Source wie möglich sein.
Die Umstellung unseres Bereichs klappte tatsächlich innerhalb kürzester Zeit. Mein Team suchte aktiv nach den geforderten Lösungen und fand Open Source Anbieter, deren Produkte bereits lange Jahre am Markt waren und stabil und sicher liefen. Mein Team hatte angeregt, aus unserem Projekt eine Art Weiterbildung für andere Referate zu machen, in dem man ein Intranet aufsetzte, das wie ein Wiki für alle funktionierte. Wir lagerten das Wiki-Projekt an unsere Auszubildenden aus, die dieses mit Hilfe eines selbstorganisierten Hackathons an einem einzigen Wochenende konzipierten und danach in die Umsetzung gingen. Motiviert von dem Engagement unserer Youngsters zogen die nächsten Referate, die nur wenige Fachapplikationen brauchten, nach.
Die Herausforderung: Migration von Fachanwendungen
Dann folgte die zweite Stufe – spezielle Fachapplikationen wie z.B. die der Vergabestelle oder kommunale Abgaben, die nur über Schnittstellen zu Windows oder iOS verfügten, mussten integriert werden. Unsere typischen Herausforderungen waren das Anlegen von Terminen oder der Umgang mit Dateien. Wir hatten ein gutes Timing gewählt: MS365 wurde zunehmend en vogue und deswegen stellten viele Fachapplikationen ihre Integrationen auf die RestAPI von MS Graph um. Da viele Open Source Lösungen selbst auch eine kompatible RestAPI anbieten, konnten die Hersteller der Fachapplikationen ohne große Aufwände denselben Code für den Datenaustausch mit Open Source Lösungen nutzen, den sie auch für den mit MS365 nutzten.
Flexible Arbeitsplätze
Mit Fördergeldern vom Bund konnten wir alle unsere Mitarbeiter:innen schließlich mit Laptops und mobilen Telefonen ausstatten. Dies erlaubte uns, die Arbeitsplätze flexibel zu machen. Heute ist Home-Office bei uns Standard. Die meisten Mitarbeiter:innen arbeiten hybrid, d.h. ca. 3 Tage von zu Hause, 2 Tage im Büro. Dadurch wurde Bürofläche frei, die wir nun unseren Bürger:innen oder gemeinnützigen Initiativen für eigene Zwecke anbieten können. Gerne nutzen Mitarbeiter:innen die Raumbuchungsapp, die mit ihrem Kalender verbunden ist, um ihren Arbeitsplatz wöchentlich flexibel zu belegen. Die gleiche Möglichkeit stellen wir auch unseren Bürger:innen zur Verfügung – egal, ob ein Termin beim Standesamt, Ordnungsamt oder Straßenverkehrsamt. Das Online-Terminbuchungssystem ist direkt mit den Kalendern der Miterbeiter:innen verbunden und mittlerweile das am meisten genutzte Tool unserer Bürger:innen.
Verbesserungsideen
Unsere Auszubildenden arbeiten ca. zweimal in der Woche in externen Co-Working-Spaces, wo sie sich mit Freelancern oder Unternehmensmitarbeiter:innen austauschen können und so praxisnah Entwicklungen im Wirtschaftskontext mitbekommen. Wenn ihnen etwas gefällt, schreiben sie es in unser internes Kanban-Board. Eine dieser Ideen führte z.B. dazu, dass wir die App eines kleinen Open Source Start-ups in unsere Infrastruktur integriert haben. Es ist eine Abstimmungsapp, mit denen wir regelmäßig Bürger:innen zu unseren Ideen befragen oder um Verbesserungsvorschläge bitten. Früher haben wir so etwas eher halbherzig mit Postkarten, die wir einmal im Jahr verschickten, gemacht.
Letztlich konnten wir auch unsere Archivare entlasten, deren Zeit mit viel zu viel redundanten Informationen auf verschiedensten Papieren aus verschiedenen Abteilungen belegt war. Die Anbindung eines Dokumentenmanagementsystems und Filesharing-Systems sorgt dafür, dass zentral sowohl alle Dokumente archiviert sind als auch alle darauf zugreifen können. Bei laufenden Projekten können Mitarbeiter:innen sich benachrichtigen lassen, wenn Inhalte sich ändern.
Nur Fiktion?
Auch wenn die beschriebene Stadtverwaltung rein fiktiv ist, ist die Realität gar nicht so weit entfernt wie es scheint. Nicht nur weltweit, sondern auch in Deutschland gibt es viele Beispiele von Verwaltungen, die bereits heute Open Source Lösungen einsetzen. Digitale Souveränität geht aber weiter: Eine Open-Source-Alternative zu MS Graph limitiert die Wahlmöglichkeiten bei den Dritt- und Fachapplikationen nicht, denn all diese Lösungen können mit allen Open Source Lösungen und mit Microsoft kompatibel sein. Die Umsetzung ist so vielfältig wie die Struktur der Verwaltung, die dahintersteht. Für die digitale Verwaltung, die sich als Service-Angebot für alle versteht, ist jedoch mehr als ein Onlinezugangsgesetz notwendig. Die Politik braucht ein Verständnis, dass Open Source Lösungen sowohl leistungsfähig und sicher sind als auch die Voraussetzung für die digitale Unabhängigkeit darstellen.
Um einen echten Gegenpol zu den großen Lösungen wie Microsoft zu schaffen, muss kleinteilig gedacht werden. In ein wohldefiniertes Grundgerüst, wie zum Beispiel die wohldefinierte RestAPI von MS Graph oder dessen Open-Source-Alternative, passen viele austauschbare Bausteine an Lösungen. Nur so können alle von Innovationen profitieren.
Nichtsdestotrotz kann und darf der Übergang auch hybrid sein, d.h. der gleichzeitige Betrieb von Open Source Lösung neben proprietären Angeboten. Um es mit der Stadt Mannheim zu sagen: „Open Source, wo möglich und kommerzielle Software, wo nötig.“
Beispiele für Open Source Lösungen in öffentlichen Einrichtungen: