Menschen sind schon irgendwie merkwürdig in ihrem Streben nach Unabhängigkeit. Nur nicht zu fest an etwas binden, das einen in seiner Freiheit einschränken könnte. Der unabhängige und individuelle Mensch als Rolemodel des Zeitgeistes. Da ist man stolz darauf, dass man Abhängigkeiten erkennt und sie meidet – auch im digitalen Bereich. Im Unternehmenskontext hört sich das dann so an: „Wir stellen unsere gesamte Software jetzt auf Open Source um, proprietäre US-Anbieter kommen für uns einfach nicht mehr in Frage, das passt nicht zu uns. Wir wollen unseren Mitarbeitenden maximale digitale Souveränität bieten.“ Das Herz des Software-Herstellers hüpft freudig in die Höhe bei dieser Aussage. Leider währt die Freude nur kurz, nämlich exakt bis zu dem Moment, in dem der/die potentielle Kund:in entsetzt fragt: „Ach so, Sie bieten gar nicht alles aus einer Hand an?“
Die tägliche Dosis Bequemlichkeit
Es ist ja verständlich. Da arbeitet man jahrelang mit der Office-Software eines einzigen Anbieters – schreibt, rechnet, präsentiert und mailt – und macht sich wenig Gedanken, dass eine Abhängigkeit in so vielen Prozessen problematisch sein könnte. Die eigene Bequemlichkeit wird perfekt bedient und nun will man wechseln und soll diese Bequemlichkeit aufgeben. Das ist nicht schön.
Kombinationen wählen, die zu uns passen
Doch vielleicht ist es notwendig, einmal ganz deutlich zu werden: Wer auf Open Source Software umsteigen will, muss auch Denkmuster ändern. In nahezu allen Konsumbereichen stellen wir uns die Komponenten oder Produkte verschiedenster Hersteller so zusammen, dass sie für uns individuell am besten passen – sei es bei der Kleidung, bei Lebensmitteln, bei Möbeln, bei Hardware oder auch im Urlaub. Alles ist modular, wir wählen die Kombination, die für uns passt. Natürlich haben wir auch die Möglichkeit eine „Flat Rate“, ein „all-in“, einen „Full Service“ oder ein „Bei uns bekommen Sie alles aus einer Hand“ zu wählen. Und manchmal sind solche Angebote aus ganz verschiedenen Gründen auch sinnvoll.
Abhängigkeiten weiterführen?!
Die grundlegende Software eines Unternehmens, die das operative Geschäft gewährleisten soll, ist jedoch kein All-inclusive-Urlaub, der nach 3 Wochen vorbei ist. Will man hier die Anbieterabhängigkeit reduzieren, in dem auf Open Source umgestellt wird, macht es wenig Sinn zu erwarten, dass die Open Source Lösung nach dem gleichen Schema wie die proprietäre Lösung funktioniert. Denn diese Lesart würde die gleiche Abhängigkeit fortführen – nur eben Open Source.
Das Potential der digitalen Souveränität und damit auch in Open Source Software liegt in der Modularität, in der Varietät und in der Vielfalt. Nicht eine Lösung für alles, sondern unterschiedlichste Applikationen, die kombiniert werden können – je nach Anforderung, je nach persönlicher Vorliebe.
Modulare Modelle fördern digitale Souveränität
Die digitale Souveränität wird explizit durch modulare Modelle gefördert, weil Komponenten getauscht werden können. Die eigene Unabhängigkeit steigt mit dem Grad der Wahlmöglichkeiten. Für den Moment mag das für Menschen außerhalb des Open Source Kontexts noch ungewohnt und vielleicht auch anstrengend sein, denn es bedeutet, dass man das bequeme Sofa verlassen muss. Langfristig profitieren sie jedoch, denn die Modularität dient nicht nur der Verbesserung und Weiterentwicklung, sondern kann auch disruptive Neuerungen hervorbringen.
Doppelte Abhängigkeit
Es ist nicht so, dass bei proprietären Anwendungen nicht auch verbessert und weiterentwickelt würde, aber ich habe nicht die Wahl, eine Komponente gegen eine andere auszutauschen. D.h. die Abhängigkeit besteht nicht nur in der grundsätzlichen Anbieterbindung, sondern auch im Anwendungsgefüge selbst. Die Wahl zu haben – ganz gleich welcher Art – ist in Zeiten schneller Veränderung und hoher Komplexität jedoch der Schlüssel zum Erfolg, da es mein Unternehmen anpassungsfähiger, dynamischer und resilienter macht.
Unabhängigkeit bedeutet, sich zu lösen – auch und gerade von bisherigen Denkmustern.